Das 100-Tage-Zwischenfazit nach dem Brexit fällt mehr als bescheiden aus
Der Brexit und das umfassende Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU sind seit Dienstag endgültig besiegelt. Doch auch nach der Ratifizierung durch das Europäische Parlament dürfte so schnell keine Ruhe dies- und jenseits des Ärmelkanals eintreten. So kam es zuletzt in Nordirland sogar zu Ausschreitungen auf den Straßen, für die unter anderem die Verschiebung der EU-Außengrenze ins Meer gesorgt hatten. Auch die ökonomischen Fakten und die Einschätzungen der Unternehmen lassen rund 100 Tage nach dem Brexit weiter Böses befürchten.
So beurteilen rund zwei Drittel betroffener Betriebe vier Monate nach dem Brexit dessen Auswirkungen schlechter als zu Jahresbeginn. Das hat eine gemeinsame Umfrage der British Chamber of Commerce in Germany (BCCG) und von KPMG ergeben. Etwa jedes sechste befragte Unternehmen hat sich entschieden, den Außenhandel mit der Insel sogar komplett einzustellen. Um den zusätzlichen Belastungen beim Im- und Export zu entgehen, haben Unternehmen auch beschlossen, sich neue Lieferanten abseits des deutsch-britischen Korridors zu suchen: 22% wollen der Umfrage zufolge zu Zulieferern aus anderen Ländern wechseln, und weitere 13% ersetzen den Import durch lokale Lieferanten. Nur noch weniger als ein Drittel der Befragten (30%) will demnach im deutsch-britischen Korridor neue Absatzmärkte und Produktchancen suchen.
„Die aktuellen Ergebnisse sind ein deutliches Alarmsignal. Dass Unternehmen erwägen oder auch entscheiden, Außenhandelsbeziehungen komplett einzustellen, zeigt eine weitere Eskalationsstufe im Zuge anhaltend ungelöster Probleme zwischen beiden Ländern“, wird BCCG-Präsident Michael Schmidt in der Mitteilung zitiert. Dass der Brexit zu heftigen Handelseinbrüchen führen werde, hätte man als Handelskammer erwartet. Die jetzige Situation gehe aber weit darüber hinaus. „Uns erreichen zunehmend Anfragen britischer Unternehmen, die sich hierzulande ansiedeln wollen, um Geschäftsbeziehungen mit Deutschland weiter aufrecht erhalten zu können“, so Schmidt weiter. Das sei aktuell offenbar die einzige Möglichkeit für weitere gegenseitige – wenn auch erst Mal reduzierte – Geschäftsbeziehungen.
Die Hälfte der Unternehmen verbuchte seit Jahresbeginn einen Umsatzrückgang im deutsch-britischen Geschäft, jedes vierte vermeldet der Gemeinschaftsumfrage zufolge sogar „starke“ Umsatzeinbußen. Auch in puncto Profitabilität wirkt sich der Brexit massiv aus: 44% der befragten Unternehmen erwirtschafteten seit dem 1. Januar 2021 nach eigenen Angaben Verluste bei ihren Geschäftsaktivitäten zwischen Deutschland und Großbritannien, weitere 16% klagen sogar über ein „starkes“ Ertragsminus.
KPMG-Bereichsvorstand Andreas Glunz machte deutlich, dass man hier nicht von einer vorübergehenden Entwicklung sprechen kann: „Bereits seit dem Referendum in 2016 sinkt das Handelsvolumen zwischen Großbritannien und Deutschland rapide.“ In den ersten 100 Tagen habe die Umsetzung des Brexits zu weiteren tiefgreifenden Umsatz- und Ergebniseinbrüchen wegen zusätzlicher Verwaltungskosten, Zölle und Abgaben sowie gestiegener Transportkosten geführt, so Glunz: „Wegen der komplexen Regularien und aufwändiger Formalitäten hat seit dem Brexit jedes vierte Unternehmen sogar freiwillig eine eigentlich vermeidbare Verzollung in Kauf genommen. Zugleich setzt sich der Trend des Austauschs von Lieferanten im deutsch-britischen Korridor fort, was zu weiteren Handelsrückgängen führen dürfte. Da auch wenig neue Chancen gesehen werden, ist auch mittelfristig nicht mit einer Verbesserung zu rechnen.“
Bei der Bewertung des deutsch-britischen Außenhandels wird der Warentransfer der aktuellen Analyse zufolge als eine besondere Herausforderung betrachtet: Drei Viertel aller befragten Unternehmen berichten von Schwierigkeiten beim Warenverkehr von Großbritannien nach Deutschland und umgekehrt. Aber auch Dienstleistungen bereiten den befragten Unternehmen Schwierigkeiten. Themen wie Mitarbeiterentsendung und Finanzdienstleistungen bezeichnen jeweils 60% der Befragten als Herausforderung, für knapp ein Drittel stellen Secondments und Mitarbeitereinsatz im jeweils anderen Land sogar eine „große Herausforderung“ dar.
Dabei sieht das Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU eigentlich vor, auf jegliche Zölle und mengenmäßige Beschränkungen im Warenhandel zu verzichten. Dennoch konnte es einen heftigen Einbruch im beiderseitigen Handel nach dem Jahreswechsel nicht verhindern – zum Teil allerdings auch deshalb, weil viele Unternehmen ihre Bestellungen noch vorgezogen und ihre Lager vorsichtshalber aufgebaut hatten. Nach Datenlage der EU-Statistikbehörde Eurostat reduzierten sich die EU-Exporte nach Großbritannien im Januar und Februar zusammengenommen um 20,2% auf 39,8 Mrd. Euro. Die britischen Ausfuhren in die EU brachen sogar um 47% auf nur noch 16,6 Mrd. Euro ein. Immerhin war das Minus im Februar bereits deutlich geringer. Auch Ökonomen gehen davon aus, dass sich der Außenhandel zwischen Großbritannien und der EU in den nächsten Monaten etwas entspannt, zumal es auf beiden Seiten Lerneffekte bei den Grenzmodalititäten geben wird.
KPMG/jr/promv